22.09.2025 nachmittags
Ich sitze an unserem weißen Mangobaumschattentisch. Meine Aussicht hatte mich ins Dahinträumen versetzt und ließ mich mit dem starken Wunsch des Festhaltens aufwachen. Eigentlich wollte ich aufstehen und mein am Boden liegendes Handy in Beschlag nehmen, aber mir wurde schnell bewusst, dass die Schönheit und Vielfältigkeit, die sich mir in diesen kostbaren Momenten offenbarte, unmöglich in Pixeln gehalten werden könnte. Mein Handy wurde sowieso in diesen Denksekunden von einem kleinen Zweibeiner in Anspruch genommen. Die junge Dame hatte neben meinem Handy in der Hand meine Glenora Farm Käppi auf dem Schädel, der durch Hydrozephalus die passende Größe hatte, um die Mütze wie angegossen zu tragen. Das Kind ist circa vier. Ihr ‘großer’ Bruder, ebenfalls ein winziges Wesen, sitzt mit ausgestreckten Beinen und einem pinken Filzstiften in der Hand auf dem Tisch auf dem auch mein Laptop und ich unser Unwesen treiben. Sein Name ist Joshua. Vor kurzem fand er heraus wie man Blätter aus meinem Block entfernt und wie es üblich ist, findet ein Kind ungemeine Begeisterung in neu entdeckten Tätigkeiten und in Kürze hatte er den Dreh des Blätterreißens raus und war tatkräftig bei der Sache mit Blättern in der Hand bis meine Hand die seine im Griff hatte. Dann guckte er verdutzt und verträumt und malte den Tisch an. Das Weiß hatte ihm sowieso nicht gestanden.
Joshua's Mama ist eine der wundervollen Mütter vor Ort. Sie ist genauso alt wie ich und zur Zeit die Jüngste beim House of Hope. Dieser Umstand sorgt dafür, dass sie am meisten arbeiten muss und viele Aufgaben der Versorgung zugeschoben bekommt. Nicht tückisch und gemein von den anderen, sondern mit großem Respekt vor ihrer Person. Es wurde nicht von den Anwesenden gewählt, dass sie so viel arbeiten müsste, sondern es ist ein selbstverständlicher Teil ihrer Tradition - alle leben in Tansania und sind Teil der Volksgruppe der Sukuma. Manche von ihnen tragen den typischen Stoff auf roten und blauen Karos und sprechen tun sie untereinander ebenfalls in ihrer Kernsprache - Corelanguage wie man es im Englischen betitelt. Mama Joshua ist ihr Rufname. Das ist gängig und allseits in Gebrauch. Keine Mutter wird mit ihrem Vornamen angesprochen und ehrlich gesagt, lerne ich auch nur die wenigsten ihrer Vornamen kennen. Sie haben ein Kind und das Kind hat einen Namen. Sie sind die Mutter dieses Kindes und damit scheint sich das Namenthema erledigt zu haben. Ich finde diese ungewohnte Neuheit eine Schöne; Loana eckt ein bisschen daran an, dass Mütter auf ihre Kinder und deren Namen reduziert werden. Es hat wohl mehrere Seiten, aber ich freue mich primär mir weniger Namen merken zu müssen. Und es ist ein extra Anreiz deinem Kind einen schönen Namen zu geben. Fast so als könnte man sich selbst neu benennen...
Wir sitzen noch am weißen Tisch, nicht vergessen! Ich möchte meine Wahrnehmung in Schichten präsentieren, da es an Ebenen nicht mangelt und so ein schönes Gesamtbild für die Vorstellung kreiert werden kann. Nimm dir die Zeit die einzelnen Details in der Birne nachzuvollziehen. Lass deine Vorstellung mal wirklich ans Werk und schau in dich, was dir dein eigenes Kopf für eine kleine Welt erschaffen kann. Satz für Satz.
Mein direktes Umfeld ist durch den Laptop unter meinen Fingern geschmückt, der nicht weniger in dieses Umfeld passen könnte. Das graue, unschätzbar teure und absolut neue Gerät, wirkt hier wie eine Sache aus einem anderen Zeitalter. Wie ein Reisender durch die Epochen sitze ich also unter strahlender Sonne an einem Tisch und tippe das, was mir zu Sinnen kommt. Rechts von meinem Computer liegen zwei Bücher; eines zum Swahili lernen mit einem orangenen und schwarzen Cover mit ein paar gelben Klebestreifen zwischen wichtigen Seiten und das andere Buch ist ein dicker Schinken, welcher mich heute reich beschenkt hatte, mit dem Titel 'Bildung'… Geschichte war noch nie so lebendig für mich wie in diesem Buch und begeistert von der Möglichkeit, bemalte ich mir wichtige Stellen kunterbunt mit Bleistift, mit Kugelschreiber oder mit einem hell pinken Marker von Loana. Das käsegelbe Klebeband liegt traurig da und ist versunken in seiner Melancholie über den Morgen, als es noch benutzt wurde und sich gebraucht gefühlt hatte. Damals an jenem heutigen Morgen, hatte Loana, die jetzt grade im Krankenhaus chillt, noch Vokabeln auf das Material geschrieben, um sie an die jeweiligen Objekte zu kleben. Das ist praktisch angewandtes Lernen! - Hust! Die Rauchwolke, die von den drei offenen Feuern vom Nachbargelände kommen, haben mich grade mit Anlauf überrollt. Würde der Sonnenschein, das Laubwerk des Baumes neben mir und die Atmosphäre aus Klängen von Musik und Kinderlachen nicht ihren Teil dazu beitragen, den Rauch zu einem unbeschreiblich schönen Attribut zu machen, würde ich versuchen mich darüber zu beschweren...
Die nächste Ebene ist der Bereich unter dem Mangobaum mit seinen walnussgroßen, unreifen Früchten, den langen und spitz zulaufenden, gleichmäßig linierten Blättern und seinem angenehm braunen Geäst. Drei Hühner, eines davon wahnsinnig nervig, gesegnet mit ein paar blauen, schillernden Federn zwischen den restlichen Weißen, treiben ihre Spielchen zwischen liegen gelassenen Schlappen und einem weißen AirForce Schuh. Nur einer. Nicht etwa, weil ich den anderen tragen würde - so doof bin ich nicht - sondern weil ich heute nur einen brauchte, um meinen linken Knöchel zu stützen. ‘Hohe’ Schuhe sind dafür ganz praktisch. Verletzt hatte ich mich gestern beim Besteigen einer naheliegenden Steinformation… obwohl das nicht ganz stimmt. Auf den Berg aus riesigen Steinen, die an der Spitze eines bewachsenen Hügels wie von Riesen gebaut liegen, bin ich problemlos gekommen. Die Familie, die neben dem magischen Gebilde hauste, hatte mir einladend den Weg zur Besteigung gezeigt und auch auf der Spitze hatte ich keinerlei Probleme, außer das Genießen des wahnsinnigen Ausblickes über die gesamte Gegend inklusive des riesigen Viktoriasees. Für diejenigen, die Vergleiche mögen: Der Viktoriasee ist 130 mal so groß wie der Bodensee. Bevor ich abdrifte; der Ausblick war schön, der Abstieg problemlos, nur das Joggen nach Hause stellte sich als tückisch heraus. Barfuß wie ich ausnahmslos vor mich hin existiere, habe ich wohl einen Stein nicht ganz gesehen und hatte dann das Vergnügen von Air Time, als ich mich nach dem Anstoßen des linken Fußes überschlug und Hand, Knie und rechten Fuß ins Leiden zog. Ein kleiner Purzelbaum nach einem entspannten Joggen, leicht bergab. Ein Augenschmaus für das gewöhnte unfallbetrachtende Social-Media-Auge. Ich stand zwar auf und trabte weiter nach Hause, aber in der Nacht sollten mir Schmerzen nachkommen, die einem gebrochenem Fuß nahe kämen, ohne jemals einen Fußbruch erlebt zu haben. Loana’s Ibuprofen, welche ich erst nach langen Stunden der stillen Qualen nahm, also mindestens 20 Minuten, rettete mich ein wenig. Deswegen sitz ich grade auch zuhause beim House of Hope und nicht im Krankenhaus. Hat alles seine Vor- und Nachteile, aber den größten Pluspunkt der Situation, ist jener, welchen ich grade so verstreut versuche zu beschreiben. Mein kurzzeitiger Anblick auf das Gelände meines einjährigen Zuhauses. Also, Sturz gestern, Moment heute. Und damit zurück!
Ein Huhn wagte es eben auf den Tisch zu springen und mich nicht lautlos anzuglotzen. Auf die hingehaltene Faust reagierte sie nicht, und somit hatte sich die Interaktion für mich bereits erledigt. Der sich immer nur in zuckenden Bewegungen drehende Kopf hielt dabei permanent Augenkontakt und die dinosauriergleichen Beine und ihre schuppige gelbe Haut mit den unfassbar coolen Krallen, das vermutlich krasseste Attribut eines sonst doch eher ruhigen und simplen Lebewesens, liefen Schritt für Schritt von rechts in meinem Blickfeld noch weiter nach rechts, bis die Dame den Tisch wieder verließ und nur wenig später von Paula flatternd und höchst empört umher gejagt wurde.
Mein Blick schwenkte zurück nach links, wo ich auf die junge Frau schaute, die auf unserer roten kleinen Schaukel am Ast des Mangobaumes saß. Sie war eine der großen Schwestern, von unseren zwei anderen Gästen und wird nur noch im Alter von der ältesten Schwester überboten. 17 und 22 sind die beiden. Beide besitzen außerordentlich schöne Namen, aber wer wäre ich, wenn ich mir sowas merken könnte. Sie schaut gebannt in ihren Schoß, wo sich mein Rubik’s Cube, der gute alte Zauberwürfel befindet, während sie konzentriert und doch verträumt wirkend auf der Schaukel leicht hin und zurück wippt. Mit diesem komplexen Gegenstand wurden heute schon mehrere Momente geschmückt, manchmal geteilte, manchmal Ruhige und Einsame wie dieser, den ich grade beobachten durfte. In meiner Sicht schaukelt sie links vom Stamm. Rechts vom Stamm, mit ähnlicher Distanz zur Rinde, aber in der dritten Dimension drei Meter nach hinten verrückt, sitzt eine der Mütter auf einem angebrochenen, orangen Plastikstuhl mit ihrem Baby auf dem Schoß. Die Beine von dem Kleinen sind angewinkelt und er hockt. Sie hat seine Oberarme stützend in den Händen und er wippt auf und ab, was ein besonderer Anblick ist, denn seine Beine kann er durch seine gespaltene Wirbelsäule selbst nicht bewegen. Die beiden lachen und grinsen sich so herzlich an, dass man beim Zuschauen weinen möchte. Der offene Mund des kleinen ist weit vor Glück geöffnet und zeigt eine winzige Zunge und zwei kleine weiße Zähne ganz vorne im Mund. Die Mama hat ein schönes Gebiss, ihr Haar ist ganz nah an die Kopfhaut geflochten und steht hinten am Kopf in einem Stütz aus kleinen Zöpfen ab. Eines ihrer beiden Augen schaut ein wenig mehr nach außen als das andere und macht sie dadurch nur noch schöner. Weinen möchte man nicht wegen dem Rauch, und auch nicht wegen den Sonnenstrahlen, die so erhaben durch das Dunkelgrün der Blätter des Baumes scheinen, sondern wegen der Schönheit des Szenarios und den Gefühlen, denen man von außen so nahe beiwohnen darf. Lass es mich noch ein wenig ausführen und streng noch einmal den Kopf an, weil das war das beinahe Schönste in dem Ganzen.
Zwei Sonnenstrahlen, die durch das Dach aus dichtem Grün fallen, rahmen das Geschehen der Beiden Menschen auf wundervolle Weise ein. Die beiden goldenen Sonnenstrahlen sind ganz deutlich zu erkennen, weil so viel Rauch in der Luft liegt, und sie verlaufen einmal links und einmal rechts von ihnen. Die Töne der Freude, die von der Mutter kommen, überbieten jedes Geräusch das man für Geld erwerben könnte. Ihr Lachen, ihr Sprechen und ihr Jubeln zu ihrem kleinen Sohn. Sein Name ist Daudi. Daudi Charles.
Der Rest des Grundstücks wird bestückt durch die üblichen Sandhaufen und rumliegenden Steine, viele Bäume und Sträucher, bei denen sich trotz ihrer Vielzahl kein einziger einem anderen ähneln möchte - und eine Matratze mit Mutter und Kind darauf, die einen Windelwechsel vollziehen. Der Kinderkopf kann einen beim ersten Sehen erschrecken. Wenn die Mutter ihre Tochter auf dem Arm trägt, ist der Schädel der Kleinen ganz klar größer, als der von ihrer Mutter. Sie schaut meistens verängstigt und verwirrt in die Welt, mit zwei Augen, die sich nicht auf eine Richtung einigen wollen, und sprechen tut sie nur sehr wenig. Sie antwortet auf Fragen ihrer Mama oder wenn ihr ein Telefon hingehalten wird, immer mit der selben Art von 'Eh' Laut. Der Kopfumfang misst 65.1 Zentimeter. Mein eigener Kopf hat die Größe 58.3. Ich bin ein 1.85 Meter großer Mann. Sabina ist Eins. Die beiden sind ein hübsches Duo und lachen viel gemeinsam. Vor Mama Sabina habe ich einen großen Respekt und sie ist diejenige, die uns beibringt 'Salama' in unseren Wortschatz zu integrieren. 'Salama' bedeutet friedlich und kann als Antwort auf beinahe alles verwendet werden und genauso oft wird man so auch in der Straße begrüßt. Salama? - Salama!
Direkt hinter ihnen ist ein Maschendrahtzaun der uns gut sichtbar das anliegende Grundstück präsentiert und noch klarer die drei Dampfherde und ihren Rauch sehen lassen, die zur Müllverbrennung dienen. Ahh, und Paula sitzt neben der Mutter und dem Kind angekettet an einen Baum mit gelben kegelförmigen Blüten und grünen Früchten, die aussehen wie Paprikas, aber laut Mentor Peter nicht essbar sind. Das wollen wir doch mal sehen… alles ist schließlich essbar! Manchmal nicht mehrmals, weil man dann vielleicht schon flach liegt, ob temporär oder auf ewig, aber essbar auf jeden Fall. Weil das Wort bezieht sich auf eine Fähigkeit, die man entweder besitzt oder nicht. Aber wenn man sie nicht besitzt, dann ist das eine Sackgasse der Evolution, und der Verbleib auf Erden war von vornherein schon grob limitiert… wieder andere Geschichte.
Der selbige Baum, bevor es zu arg abdriftet, ist der selbe in dem wir manchmal zwei Federtiere beobachten, die in den Höhen des Baumes auf Ästen sitzen. Die Sprache ist von einem wenig prunkvollem Hahn und seiner Liebsten, beide weiß und oft mit großem Lärm dabei, sich in die Höhen des hübschen Baumes mit seinen Blüten und Früchten schwingen. Um sie herum sitzen andere Vögel, manchmal ganz normale Spatzen, andere Male kleine simpel erscheinende Vögel, die aber kleine Ausnahmen an sich tragen, wie ein leuchtend oranger Schnabel oder ein Federschwanz der ihre eigene Körpergröße um das Dreifache überbietet.
Der Moment ist fertig beschrieben und bevor es all zu random wird, was ich so brabbel wenn die Intention zum Schreiben fehlt, noch schnell der Ausspruch, dass zum jetzigen Zeitpunkt keines der beschriebenen Details mehr in ihrer Form existieren. Der Moment ist vergangen und ich sitze reichlich entspannt da, sehr glücklich darüber im richtigen Moment zu Bewusstsein gekommen zu sein und einen so schönen Augenblick in seiner Fülle zu greifen und in dem Gewand aus Worten für eine Weile am Leben zu halten. Ich hoffe dir hat es auch ein wenig gefallen. Möchtest du direkt weiterlesen? Oder gibt es eine schöne Erinnerung, die du vielleicht schnell in fünf Minuten festhältst, wofür du dir später einmal sehr dankbar sein könntest? Bis nachher!