Vikindu’s Momente in einer Nussschale

Vikindu’s Momente in einer Nussschale

Als unser Erlebnis der ersten Woche zu Ende geht, darf ich auf eine goldene Anfangszeit in Tansania zurückschauen. Der Ort, welcher uns für diese erste Woche unseres einjährigen FSJ’s beherbergte, war ein wundervoller, gefüllt von der warmen Energie vieler Kinder, die sich dem Anschein nach so sehr in den Rahmen verliebt hatten, wie das bei mir der Fall war. Wir wurden umsorgt was das Essen und die Bleibe angeht; wir wurden umhergeführt und einbezogen; uns wurde die Schule näher gebracht und das Leben der Kinder erklärt. Wir hatten oft die Möglichkeit für uns zu sein, zu verarbeiten und durch Schreiben und Reden aneinander zu wachsen , aber genauso oft auch um mit der Gruppe aus Freiwilligen unsere Freizeit zu gestalten.
Ich möchte in schwärmerischer Rückschau diesen Platz in der Welt noch einmal ausmalen und mit meinen Lieblingsmomenten ausschmücken, bevor es auf unserer Reise durch Tansania weitergeht zu dem Ort, an dem wir ein ganzes Jahr verbringen werden - Mwanza. 

An was ich mich am liebsten zurück erinnere ist tatsächlich unser Ankommen. Beziehungsweise die ersten Stunden danach. Da wir durch die Nacht durch reisten und erst nach Ewigkeiten um fünf Uhr morgens in Vikindu aufschlugen, entschied ich mich im Angesicht der Gräue, die ein baldiges Erscheinen der Sonne anpries, nicht mehr schlafen zu gehen, sondern einen Ort der Ruhe zu finden, in der Natur, und ihre Schönheit in der morgigen Stunde voll aufzunehmen. Mein Ort des Morgens war für vier Stunden ein kleiner Baum direkt am oberen Ende des Gartens auf dem Schulgelände. Links von mir wächst ein junger Cashewbaum kurz nach der Blüte und kurz vor der Nussentwicklung und dementsprechend verhältnismäßig unspektakulär was Farbe oder Gewächsen an Zweigenenden angeht. Rechts von mir vegetieren zwei hohe Palmen, hinter mir eines der Schulgebäude und  zwei Schlafsäle; die kleine Farm rechts hinter mir wo ich in einem kleinen Schuppen eine Mutterkuh und ihr Kalb erblickte, die zwischen Enten und Hasen standen. Ein kleiner brauner Hund mit wenig Fell an einen Zaun angekettet, war auch da und mit späterer Stunde beobachtete ich zwei der Farmer - junge, sehr sympathische Männer, die anfingen die Tiere zu umsorgen und dann mit sorgfältigem Blick den Garten durchschritten und mich entdeckten. Der Ausblick zu meiner Vorderseite war jener über die Reihen des Gartens, von welchen aus zu großen Teilen Pflanzen wuchsen, die einer Aloe Vera ähnlich wären. Kleine Bäume im Garten schmückten dann die Aussicht auf den Hügel hinter ihnen, auf dem sich die Nachbarschaft erstreckte. Kleine Häuser deren Zwischenräumen von einem intensiven, leuchtenden Grün der Bananenbäume erfüllt waren, Büsche und ganz oben auf dem Hügel auch riesige Palmen. Die Häuser schillerten später grau unter der Sonne, mit ihren Blechdächern, meistens grau manchmal grünlich, immer wellig mit Rillen. Die ersten Familien erwachten nach Sonnenaufgang und Kinder sprenkelten den orangen Sandboden, hart wie Stein und staubig, und spielten dort miteinander oder jagten Hühner. Manche erblickten mich sogar in der Ferne und winkten. Ein Feuer wurde zwischen den Häusern entfacht und der Prozess der Müllverbrennung und sein Rauch durchzogen dann die morgendliche, langsam immer wacher werdende Siedlung und Sonne legte sich um den Rauch und machte ihnen zu einer leuchtenden, schweren Masse. Wassereimer wurden zwischen den Häusern umher getragen und die Vögel waren munter und schmückten die Akustik meiner Momente mit wunderschönen Gesängen und Schreien. Am schönsten bleiben aber die Geräusche von Hühnern. Ich sah später zwei Kühe vor sich hin existieren und mit ihrem Kopf vertieft in was sie grade aßen, auf einer hohen Graswiese direkt beim Nachbar, und zwischen ihnen sprangen kleine Ziegen. Die Sonne kam hinter dem Hügel auf der Rechten empor und bemalte schließlich alles mit ihrer Glasur des Fröhlichen und begab sich dann hinter das Laubdach unter welchem ich verweilte um mich mit Schatten zu verschonen. Mein Aufenthalt war ein beinahe vollkommender. Die Aussicht, der Baum zum lehnen, das weiche Sand unter meinen nackten Füßen. Meistens im Schneidersitz mit starrem Blick in die Umgebung, in dem Versuch meinen Fokus nicht auf Einzelnes zu legen, sondern das Ganze zu sehen. Manchmal angelehnt an den Baum mit dem Versuch die Augen ein wenig zu schließen und manchmal bei dem Versuch Ameisen von mir zu entfernen. Eine schöne Erinnerung für diesen wunderschönen ersten Morgen im Neuland wird das Bild sein, welches ich versuchte mit Kugelschreiber in mein kleines kanadisches Notizbuch zu zeichnen.


Vieles sollte in der kommenden Zeit Augenblicke erschaffen, in denen man besonders wach im Moment erscheint und sehr reflektiert auf den jetzigen Umstand zu schauen scheint und ihn als etwas Tieferes erkennt. Klarheit über das Sein und den Ort auf der Welt kam wellenartig, manchmal in einer belustigenden Weise und manchmal mit einem Wow-Effekt, und ergoß sich unermüdlich über den jungen Kopf. Einfach war es nicht immer. Aber ausnahmslos lehrreich und divers. Leben wurde uns innerhalb kürzester Zeit neu erklärt und wir versuchten mit unseren alten Werten und Denkweisen schnellstmöglich hinterher zu kommen, ohne uns dabei selbst zu verlieren. 


Der nächste Moment, der mir nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte, war ein kurzer Augenblick, den ich als Mensch von unten aus in einen Baum starrend, miterleben durfte. Der gigantische Cashewbaum unter dem ich mich befand, der sich so erhaben in das Zentrum des ganzen Schulgeländes gestellt hat, beherbergte in diesen Sekunden zwei sichtbare Bewohner: eine neugierig und schlau schauende schwarze Krähe, ein wenig größer als jene, die mir aus Europa bekannt vorkämen; und einen hellgrauen Affen, mit schwarzem runden Gesicht und langen gleichmäßigen Schwanz. Jener saß einen Ast unterhalb der Krähe und in Stille blickten sich die beiden an. Unter ihnen sprangen Scharen aus tansanischen Schulkindern am Boden unserer Welt umher und sie blickten einander an und schienen zu sprechen, über die Welt die sie von dort oben miterleben durften und über die Ereignisse die neulich angefallen waren. Der Akt ließ mich sicher sein, dass ein Austausch stattfand und belustigt beobachtete ich die beiden in ihrem gemeinsamen Moment. Den heimischen kleinen Affen hörte man noch oft, abends über unser Blechdach krabbeln und ab und zu konntest du am wackelnden Ast im Baum erkennen, wo er grade sein Unwesen trieb. Vielleicht hätten wir einfach auch auf den Bäumen bleiben sollen, und alles wäre ganz anders und vielleicht besser gekommen. Vielleicht war es aber auch schon falsch das Meer zu verlassen. Wir wissen es nicht.

Oft verbrachte ich eine Tageshälfte im schulischen biodynamischen Garten. Dort wurde grade durch Mentor Peter versucht, eine neue Methode des landwirtschaftlichen Arbeitens zu integrieren und während er den Farmern erklärte, wie sie in Zukunft zu arbeiten hätten, nahm ich Bilder von den Beeten und den gebauten Konstrukten. Ich begleitete Peter bei dem Prozess des Dünger (500) Anmischens und war da, als allen Kindern der Prozess des Kompost Machens erklärt wurde, was einen Nachmittag für alle Klassen ausmachte. Beete wurden ausgemessen und innerhalb weniger Stunden fertig gestellt, Pflanzen wurden reihenweise neu gepflanzt und selbstgemachte biodynamische Pflanzensprays wurden erschaffen und überall aufgetragen. Ich lernte Wörter von den drei Farmern ohne ein einziges Wort der gleichen Sprache zu teilen; alle drei sind in meinem Alter - 20, 21 und 22. Ein bewundernswertes Trio. Mit Händen und Füßen lernte man sich auch ein wenig über die Woche kennen. Ihre Namen sind Simoni, der Erfahrenste der drei; Yuma, ein unendlich süßer Charakter der leicht stottert, kein Englisch sprach und eigentlich immer lächelte; und der Hübschling Josef. Menschen mit denen man zusammen arbeiten möchte, vor allem nachdem man miterlebt, wie sie untereinander sind und ihre Arbeit auf der sozialen Ebene gestalten. Sie haben unfassbar lange Tage voll mit Arbeit, verdienen unverhältnismäßig wenig, da sie hier wohnen und Essen bekommen, und dafür sind sie das Fundament für alles was Natur auf dem Gelände angeht. Ihre Art mit Tieren umzugehen gefällt mir wohl am meisten. Dieses Beieinander könnte nicht natürlicher verlaufen. Hier scheint der Mensch als Wesen noch fest mit seinen Fußsohlen auf der Erde der echten Natur und ihrem Leben zu stehen und eine uralte natürliche Harmonie in der Miteinander zu bringen. Ich zerfließe…

Ein anderer, sehr lauter Nachmittag war jener, an dem ich die Flöte hervorzauberte, die mir vor vielen Wochen bei meiner Rucksackreise durch Monaco geschenkt wurde, als ich dort für zwei Wochen mit Rucksack und ohne Ausgaben hausen durfte. Eine überaus interessante Zeit… Die Flöte fand gefallen und es war herrlich den Kindern dabei zuschauen zu können, die Welt zu erkunden, die sie aus ihren eigenen Tönen erschaffen konnten. Das Mundstück versank in den Kindermündern mal flach und mal ganz. Der Ton war manchmal ein lauter und dann stoßweise kleine Töne, weil das Kind in die Flöte lachen musste. Wenn ich meine Finger zur Hilfe anbot, um die Löcher zu bedecken, dann kam ab und zu auch mal ein stabiler Ton raus, obwohl ich mir, wenn wir schon mal dabei sind, jegliches Können mit der Flöte absprechen darf. Ich habe sie dabei, um sie entweder zu erlernen oder zu verlieren. Nach diesem Tag wäre Zweiteres um ein Haar der Fall gewesen. Meistens lief es über die Woche so: du gibst einem Kind etwas aus deinem Besitz zum beschauen und bewundern; das Kind nimmt es dankend an. Sehr dankend. Der Besitzer hat sich durch diesen Prozess dann einfach gewechselt. Nach solchen strahlenden Augen sagst du nicht mehr hey gib das wieder her… ah ah. Meinem Poncho fehlt jetzt eine silberne Spange am Kragen und somit ist er nun wohl oder übel unsymmetrisch. Ahh! Atmen… Der Besitzer der Haarspange heißt Abdul. Belustigt durfte ich feststellen, selbst noch mehr Kind zu sein, als man es sich ansonsten eingestehen würde. Die Dinge die meine Bauchtasche aus Kanada füllten mit der Aufschrift ‘Shambala’, fanden ausnahmslos Anklang, weil die Gegenstände die mir gefielen, auch bei den Kindern von Interesse war. Man findet in den schwarzen Stofftiefen Ketten aus goldenem Messing, einen Meter lang; oder drei Haselnüsse wie die von Aschenbrödel. Eine Art von Nuss, die hier noch nie jemand gesehen hatte. Muscheln von spanischen Stränden, an denen man vor drei Monaten am Anfang der Europareise noch gecampt hatte; und kleine Steine aus Norwegen. Meine Essstäbchen waren auch herzlich willkommen, aber schienen so nutzlos wie interessant zu sein. Und mein Hut! Keine Frage… zwar nicht aus meiner Tasche kommend, aber dennoch ein Highlight für manche der kleinen Wesen, war der Kunstleder-Fischerhut in seiner Farbenpracht und den komplexen Formen (jene Tautropfen, die geschwungen und in Verzierung geschmückt schon viele Kleidungsstücke übersät haben; kennt jemand den Namen?), als auch der schönen Krempe und dem Fakt, dass man den Hut auf beide Seiten gestülpt tragen konnte. Vielleicht hatten die Kids ihren Spaß nicht, weil mein Hut so cool und vielfältig zu sein schien, sondern weil sie eine neue Sache in der Hand hielten, mit der sie auf mehrere Weisen interagieren konnten. Allein schon etwas im eigenen Besitz zu haben, brachte bereits große Freude…

Eines schönen Morgens schmückte das wahnsinnig coole Kollegium aus circa acht Lehrkräften und anderem Personal unsere Zeit mit Tänzen. Am einem Tag standen wir alle im Kreis und die Kinder sollten durch Zuschauen lernen, was sie später selbst tanzen sollten. Ein witziges Miteinander mit rhythmischem Call-and-Repeat Rufen, Geklatsche und im Kreis  laufenden Bewegungen bei denen sich eine Person bückt, während die um sie Stehenden eine Streckbewegung über die Duckende hinüber tun und sich dabei anschauen. Eine Welle aus Bewegung schwappte Runde für Runde von Mensch zu Mensch. Dabei ausgelassener Gesang, hohe Schreie der Freude und Rhythmus durch Klatschen. Versuch dabei zu sein und nicht breit zu grinsen… Danach gab es eine neue, noch eindrucksvollere Melodie und zwei Personen gegenüber stehend im Kreis mussten sich durch Augenkontakt finden und gingen dann gleichzeitig durch den Kreis aufeinander tanzend zu, passten sich ab und nahmen den Platz der anderen Person ein. Es war sehr befreiend die Lehrkräfte tanzen zu sehen, die sonst als absolute Respektspersonen eingespeichert sein könnten, mit denen man kein Spaß hätte. Der Übergang von den Facetten der Person sind hier fließend und nicht durch Masken verdeckt und durch überdenken gefälscht. Sie lachen und bewegen sich wie Kinder und lassen den ganzen Ballast los, den sie sonst tragen müssten. Ihre Ernsthaftigkeit geht flöten und Töne werden ungefiltert und immer freier und lauter. Der Mensch besteht aus seiner Kindheit, dem Jetzt, seiner Fröhlichkeit und der bunten Farbe seiner Kleidung. Und das alles fließt beim Tanzen mit einem Mal heraus. Ein wundervoller Moment und ein schönes Gefühl ein Teil davon sein zu dürfen. Man merkt sonst selten wie sehr einem Gesang und Tanz fehlen.

Eine Sportstunde der Kinder bei der ich am Rand saß und zuschaute, bestand aus einem zerfledderten Fußball und der Klasse die eingeengt zwischen zwei werfenden Kindern standen. Abwechselnd versuchten die beiden Werfenden den Ball also nun in die Menge zu schleudern und dabei jemanden zu treffen. Die Ausgeschiedenen (ha) stellten sich an den Rand und hatten ab dann beinahe noch mehr Spaß beim Zuschauen als beim Dabeisein. Je nach Behinderungsgrad  waren manche der eingeschränkten Kinder in der Lage mit den unversehrten Kindern mitzuspielen. Oft hatten sie aber ihren Spaß an der Seite zu stehen und ab und zu nur mal ein paar Schritte ins Feld zu machen und dann lachend davon zu rennen. Ich hatte Platz gefunden auf einem grauen Bordstein, der den Rasen auf der Hauptfläche des Geländes einrahmte und neben mir waren zwei Rollstühle, einer mit der nonverbalen Kashinge in sich und der zweite mit einem jungen Mädchen, mit dem ich ein anderes Mal abends etwas zeichnete. Sie konnte Gesichter malen und nutzte dafür ihren Mund als Halterung für den Stift. Ein beeindruckender Prozess. Die Kinder, die meinen Hut als nächstes wollte, saßen dann bei mir, anstatt an der Wand zu stehen. Eine nette Gruppe, die mich da umgab. Der Sportlehrer stand dabei und war ebenfalls Teil der Spiels, mit genauso viel Begeisterung wie die Kleineren und mit einer Stimme, die aus Spaß bei der Sache von der normalen Lehrerstimme immer wieder in quiekende, sehr hohe Laute abwich, die er mit Absicht von Zeit zu Zeit einbaute, was einen total belustigenden Teil zu seinem Sprachbild beitrug. Es gibt einen ‘ahh’ Laut, der sehr verbreitet genutzt wird und den ich mir sehr schnell selbst aneignete, ohne mir ganz darüber bewusst zu sein. Aber der Laut funktioniert so perfekt und füllt eine kleine Lücke, die mit Worten nie ganz gefüllt werden konnte. Wenn dir jemand etwas erzählt - sagen wir ein Kind versucht dich zu veräppelt und du merkst es - dann kannst den Ton geben und beide Seiten wissen, dass du den kleinen Menschen durchschaut hast. Wenn dir jemand eine Aufgabe gibt, und du bist noch zu müde und hast kaum Lust, dann ist ahh das genau richtige. Oder sagen wir, dir wird etwas auf Swahili gesagt und du hast kein Plan und guckst die Person nur für eine Weile an, wie ein Meerschweinchen bei Gewitter wenn’s blitzt, und dann machst du das quietschende ahh! Ernst nehmen kann man dann gar nichts mehr, aber genau da scheint ein Teil des Sinnes zu liegen. Ernst genommen wird generell das Wenigste, und das ist eine wundervolle Art miteinander umzugehen. Nicht die Arbeit, sondern die Menschen stehen im Vordergrund und die Momente die man mit ihnen teilt. Lachen hat eine vielfache Wichtigkeit und eine gute Zeit ist Regel Eins. Das scheint auch außerhalb des Schulgeländes zu gelten. Es ist ein Life-Style bei dem ich vorfreudig darauf warte, ihn für mich selbst zu entdecken. Lachen statt doof gucken und in schlechten Gedanken versunken zu sein… morgen fang ich damit an!

Uhh, mir fällt ein schöner Abend ein. Der Abend wird wohl nicht für alle Anwesenden das gehabt haben, was er für mich hatte, aber dazugelernt haben wohl alle. Wenn auch vielleicht nur wenig Nützliches. Als Gruppe aus Weißen hatten wir uns allabendlich mal wieder am Feuer unter Palmen eingefunden. Unser Gespräch eskalierte für eine kurze Weile, als wir gemeinsam die Theorie des philosophischen Höhlengleichnisses von Platon durchsprachen. Die meisten hatten davon gehört, aber richtig hängen geblieben ist es aus der Schulzeit nicht. Einer von ihnen, unser wundervoller Yannik kannte es aber gut genug und hatte die ebenso wundervolle Idee es wie im Theater nachzustellen. Er kletterte hinter die Treppen und hatte nun das Publikum zwischen mir und ihm. Ich saß im Schneidersitz im Poncho vor den Anwesenden und blickte auf die Treppe mit Menschen und Yannik dahinter. Im Hintergrund schien ein helles Licht. Genau dieses Licht nutzte Yannik um Schatten auf mich zu projizieren. Ich hob meinen Poncho etwas an und erschuf eine flache Leinwand direkt vor mir. Leinwand wörtlich, da der Poncho aus braunem Leinen mit roten und blauen Schnüren in Muster verwoben besteht. Yannik hob eine Flasche, seine Hand und größere Steine zwischen uns und wir erzählten abwechselnd in Kürze was dieses Gleichnis ausmachen würde. Soweit unser Setting in echt und hier die kurze Erklärung was abgeht:
Es geht um Menschen in einer Höhle. Sie sitzen nahe vor einer Wand und starren jene an. Sie sind angekettet und können weder aufstehen, noch eine Bewegung vollziehen. Ihre Augen blicken ein Leben lang unbewegt auf die Höhlenwand. Hinter ihnen, auf einer Anhöhe, brennt ein kleines Feuer. Das Licht, welches von diesem Feuer auf die Wand fällt, wird von uns gesehen. Zwischen Wand und Feuer bewegen sich Objekte aller Art. Vielleicht werden sie getragen, oder bewegen sich von selbst, wir wissen es nicht. Aber diese Schatten der Objekte fallen auf die Höhlenwand vor den Menschen und jene sehen diese Schatten. Da sie ihr Leben lang nichts anderes wahrgenommen haben außer die Wand, das Licht und die Schatten, halten sie jene für echt oder eben für ihre Realität. Sie wissen nichts von dem Feuer und haben auch keine Idee wie der Gegenstand aussieht, dessen Schatten sie jetzt auf der Wand wieder finden. Sie denken auch nicht, dass es einen Gegenstand hinter dem Schatten gäbe. Für sie ist ihr Leben nur die Wand, das Licht und die Schatten; das ist real. Bis zu diesem einen Tag. Einer dieser Menschen kommt nämlich frei. Durch Zufall oder göttliche Hand? Wer weiß. Zum Glück kommt er frei, denn ansonsten gäbe es jetzt keine Geschichte zu erzählen. Die Ketten fallen ab und er kann sich bewegen. Er guckt nach links und rechts und sieht die Personen starr neben sich sitzen. Er schaut nach hinten und erkennt einen hellen Lichtpunkt, der langsam abebbt und erkennbar wird. Er kann es nicht benennen. Weder das Feuer noch die Gegenstände. Auch nicht den Fakt, dass er sich in einem dreidimensionalem Raum befindet. Nichts hiervon ist dem Menschen jemals in den Kopf gekommen und es übersteigt die eigene Vorstellungskraft eine neue Dimension mit neuen Dingen wahrzunehmen. Er sieht ein anderes, schwächeres Licht in einer Wand und läuft wacklige Schritte auf jenes Licht zu, welches zum Ausgang der Höhle führen wird. Im Ausgang angekommen überblickt er das Draußen; eine Landschaft mit einer hellen Sonne, viel heller als das Licht auf der Wand. Er sieht und versteht nicht, aber er begreift seine Mitmenschen aufwecken zu müssen, weil sie bisher allesamt in einer Illusion gelebt haben und das ‘echte’ Leben wo anders stattfindet. Mit dieser Aufgabe kehrt er zu ihnen zurück und beschreibt ihnen das Erlebte. Sie verstehen nicht und bringen ihn um, nachdem sie ihm Wahn und Verrücktheit unterstellen. Verständlich.

Unser Abend ist nun auf einem interessanten Gesprächsweg, nach dieser kurzen Exkursion in die Gedankenwelten des griechischen Platon’s. Weil es grade zu passen schien, füge ich hinzu, dass der Film Matrix eine ganz ähnliche Idee in seinem Kern hält. Der Film von 1999 ist weitest gehend unbekannt und vielleicht zu ihrem bisherigen Glück. Ich nehme ihnen das Glück indem ich sie damit vertraut mache. Neben uns hatten sich über die Zeit eine Lehrerin eingefunden, unser Mentor Peter und zwei Farmer. Ich frage Peter, der als einzige Person Englisch spricht, ob er und die restlichen Anwesenden Teil des Gespräches werden wollen. Sie haben Lust und ich erkläre, dass ich einen Filmskript wiedergeben werde und frage, ob er nicht so freundlich wäre, diesen für unsere Swahili sprechenden Gastgeber zu übersetzen, damit sie nachvollziehen können, was passiert. Peter hatte den Film selbst einmal gesehen, aber der Inhalt wurde ihm über die Zeit wieder fremd und erklärt sich begeistert einverstanden. Das Kommende ist die Geschichte eines Filmes FSK 16! Das liegt zu großen Teilen an dem Gebrauch von Waffen und der Action selbst, aber vor allem an der Idee die hinter dem Film weilt. Sei dir selbst so viel wert das nicht zu lesen, wenn du nicht 16 bist und spring schnell zum nächsten Absatz. Du verpasst rein gar nichts.

Ich beginne von einer Welt 200 Jahre in der Zukunft zu berichten und mache nach ein paar Sätzen immer eine Pause und Peter übersetzt flüssig in seine Muttersprache. So arbeiten wir uns von dem dystopischen, apokalyptischen Zustand der Welt 2199 immer tiefer in den Kern der Erzählung. Menschen hatten viele Jahre davor Maschinen entwickelt und ihnen Intelligenz vermacht. Maschinen sahen das Böse im Handeln des Menschen und befreiten sich aus ihrer Ausnutzung, ihrer Versklavung. Die Menschen bekriegten die Maschinen und verdunkelten den Himmel mit riesigen Wolken, da die Sonne die Energiequelle der Maschinen darstellte. Den Krieg gewannen dennoch die Maschinen, nur blieb der Himmel auch nach dem Krieg verdeckt und dunkel. Um Energie zu gewinnen wurden Menschen in Milliardenscharen in kleine Behälter gesperrt. Dort verweilt der aller größte Teil der gesamten Menschheit wie in einer unendlich großen Farm. Allerdings sind wir nicht bei Bewusstsein über was ist. Wir liegen wie ein Embryo zusammen gerollt in einer Nährflüssigkeit, in dieser Blase die einem künstlichen Mutterbauch gleichkommt und sind in einer Art Dauerschlaf. An unserem Körper sind Drähte und Kabel befestigt, die unsere Körperenergie aussaugt und uns zu der perfekten Batterie für Maschinen macht. In unserem Köpfen träumen wir von einer Welt. Es ist kein echter Traum, sondern ein Computerprogramm, dass uns dort eingespielt wird, aber welches wir seit der Geburt genauso erleben und deswegen niemals durchschauen könnten, um zu wissen dass es unecht wäre. Das Computerprogramm mit dem Namen ‘Matrix’ ist eine Simulation und Animation der Welt, wie sie zu unserer Zeit grade aussah und funktionierte. Alle Menschen sind in ihr und existieren in ihren Köpfen in der Matrix, wobei ihre Körper in kleinen Gefäßen liegen und unbewegte Batterien darstellen. Die ‘Matrix’ ist unglaublich komplex und detailliert. Alles was wir sehen, fühlen, schmecken und mit Sinnen erleben, wird durch elektrische Impulse an unser Gehirn geleitet. Uns in der ‘Matrix’ ist es nicht möglich zu erkennen, dass wir in ihr wohnen. Wir berühren unsere Haut und wir schmecken unseren Salat und sagen: ‘Das muss echt sein. Das ist real.’ Der Held der Geschichte ist der Auserwählte, der schon immer etwas vermutet hatte. Jemand der schon immer sicher war, dass etwas schief läuft in dieser Welt und dass etwas dahinterstecken muss. Nach ewigem Suchen und Streben bricht er aus dem System aus und agiert aus der echten Welt heraus und bekämpft das Böse. Hollywood machte also aus einer höchst philosophischen und sehr alten Idee, den nächsten Actionfilm. Auch nicht schlecht. Mir wurde der Film früh gezeigt und ich fand die Idee genial, allerdings lässt so eine Idee dein Bewusstsein auch lange damit kämpfen, was wirklich ist. In den Gesichtern ein paar der um mich herum Sitzenden kann ich erraten, dass sie auch ohne den Film ausgekommen wären oder dass sie sich wundern, was ich für eine Kindheit hatte. Unsere tansanischen Kollegen wundern sich vielleicht welche Probleme wir im Westen haben und mit was für Dingen wir uns herum schlagen müssen. Ich bedanke mich beim Mentor fürs fabelhafte Übersetzen. Die Köpfe sind mit Dingen gefüttert, die einen nicht weiter bringen und alle dürfen kurz verdauen.


Nach diesem Abend des vielen Erzählens ging es dann erschöpft ins ‘Bett’. Ich kroch wie immer in das Zelt in meiner Zimmermitte und balancierte sein Gleichgewicht durch meine Musikbox in der einen Ecke und schlief auf meinem dicken Buch ‘Bildung’ als Kopfkissen ein. Allmorgendlich wurden Loana und ich von einem ähnlichen Geräusch geweckt. Ein kleiner rötlicher Vogel war frech genug seinen dicklichen kurzen Schnabel an unseren Fenstern auszuprobieren. Die Fenster sind nach außen hin durch blaue Folie gespiegelt und der kleine Besucher attackierte wohl eher sein Spiegelbild, als dass er uns den Schlaf rauben wollte. Aber manchmal hat man eben Glück und fängt zwei Fliegen mit einer Klappe. Zwei schöne Kunstwerke verzierten meine Zimmerwände. Eines von ihren war ein dicker Rahmen, der aus Holz in die Tiefe gehend eine Landschaft und Dimension geschaffen hatte, mit einer mittelgroßen Figur in seiner Mitte die aus pechschwarzen Holz geschnitzt wurde. Das Bild war unten herum bemaltes Holz dass Savanne darstelle und Bäume an den Seiten, wieder auf Holz gemalt. Im Hintergrund ragt ein Gebirge in die Höhe und schmückt das Gesamtstück mit blaugrauem Himmel aus Stein.


Zwei Räume weiter liegt in unserem Vorraum eine Papaya auf dem braunen Tisch am Sofa stehend. Von Tag zu Tag wird sie minimiert und die knackenden kleinen runden Kerne in ihrer Hundertschaft, wurden auch immer weniger. Das Fruchtfleisch ist hell orange und flutscht wunderbar einfach in den Mund von Zahn zu Zahn und hinab in den Schlund. Papaya essen macht tatsächlich Spaß und die Kerne haben eine leichte Schärfe zu sich, die an die orange Blume der  Kapuzinerkresse erinnert, für die Kenner* unter euch. Völlig überwältigt war ich von den Erdnüssen, die wir irgendwo mal geschossen haben. Kleiner als gewohnt, feuchter als sie jemals im Supermarkt zu finden wären und mit violetter Färbung auf der dünnen Haut um die Nuss selbst. Das Feuchte holte eine Süße aus den Nüssen, die mir zuvor völlig fremd war. Der einfache Grund war, dass sie ungetrocknet sind. Exportieren könnte man sie so nicht, da sie auf jeden Fall schimmeln würden. Die Welt verpasst was. Kilo hätte ich davon naschen können, aber für den Spaß kommt man irgendwann zur finanziellen Einsicht, und deine Verdauung gibt auch ihr zu Sinnen rufendes Feedback von sich. Erdnuss… es muss gesagt sein, dass das ein wirklich starker deutscher Begriff ist, ehrlich. Dichter und Denker… Melonen waren auch nicht selten gesehen und die ein oder andere winzig kleine Banane verirrte sich auch mal in unsere eigene kleine Höhle, voll mit Licht und mit Geschmäckern und Unterhaltungen, dass die doch echt sein müssen, oder? Yannik opferte mal ein paar Süßigkeiten, die er sich ins Gepäck geschoben hatte. Beinahe eine Woche ist er vor uns hier angekommen und ich bin begeistert davon, dass noch Dinge mit Zucker übrig waren. Bei mir wäre das anders gelaufen. Ich bin genauso dankbar für das Süßzeug und den widerlichen Geschmack der Gelatinemasse, da ich wieder im Vollen wertschätzen kann, für eine Weile nicht in einer Zuckerindustrie versifften Gesellschaft leben zu müssen. Bis zu diesem Aussetzer durfte ich zuckerfrei dahin existieren. Beim Tee im Imbiss des Vertrauens gibt es die Möglichkeit sich die Brühe zu versüßen. Charakterschwäche meiner Wenigkeit wird auch das zu gegebener Zeit zulassen, aber die Freude über den sonstigen gesunden Alltag ist eine Große. Die Plastikverpackung und den Müll von westlichen Süßigkeiten und ihren Marken in den Straßen zu sehen, ist aber mindestens so bitter wie der ehemalige Inhalt des Mülls süß war. Zucker ist echt nicht die Droge, die man einer Gesellschaft wünschen würde, abhängig von zu sein. Pole(Swahili für ‘Mein Beileid’) Deutschland… in mir bleibt neben vielen anderen, ein ganz besonderer Zwiespalt übrig: wünsche ich der Schule hier eher zuckergeimpfte Gerichte verzehren zu müssen, oder weiterhin täglich nur Ugali zu haben? Ugali, zur Wiederholung, war dieser mies geile Maismehlbrei mit Wasser gekocht, ohne Geschmack und nur der Konsistenz von Matschepampe. Ich find kein Äquivalent. Echt eine harte Entscheidung. Die Kids haben dennoch ihren eindeutigen Gefallen an der weiß gräulichen Pampe. Auf jeden Fall gesund. Immerhin - das wäre sonst echt das Letzte.


Eine andere sehr schöne Sache war das Erlebnis eines Unterrichts. Man hat ja schon oft genug vor einer Klasse gestanden und einfach mal unterrichten müssen, stimmt’s? Klassiker. Ich bisher zwar noch nicht, und meine Unterrichtsgefährtin Jule auch nicht, aber cool das erste Mal mit einer tansanischen ersten Klasse teilen zu dürfen. Die Stunde hat mir tausendmal mehr gelehrt, als wir den Kindern beibringen konnten. Das Ganze lief nicht unspannend ab, aber wurde doch eher von Schwierigkeiten dominiert, als dem Flow eines gemeinsamen Treibens. Am Anfang war die Klasse noch ein wenig gebannt von der Neugier einer neuen Person vorne an der Tafel, aber Kinder merken natürlich am schnellsten was die Situation ist und wie viel Plan man von dem hat, was man da so versucht zu tun. Bald wurden Grenzen ausprobiert und wir wurden als Respektperson in Frage gestellt… gehört der Raum vorne vor der Tafel wirklich nur uns oder kann man sich diesen teilen? Kann ich meiner Freundin jetzt erzählen was mir grade so einfällt, oder muss ich bis später warten? Sollen wir auf unseren Stühlen sitzen, oder auf den Tischen stehen; ich hab grad nicht richtig zugehört. Ist es ok, wenn ich mit einem Zirkel durch die Klasse schreite, oder nimmst du ihn mir dann aus Angst ich könnte jemanden ernsthaft verletzen, weg? Lautstärke, Position und Handlung wurde alles durchprobiert. Jule und ich hielten vieles in Schach, indem wir gemeinsam Namen lernten oder Dinge malten. Wir verteilten Papier und die Aufgabe war es einen Satz abzuschreiben und einen Elefanten zu malen. Wir unterstützen dabei und hatten unsere Probleme flinke, schlaue Schulkinder eine Aufgabe zu geben und sie beschäftigt zu halten, während wir für Lernbehinderte etwas mitschrieben oder aufmalten, damit sie auch etwas haben und nicht hilflos dabei sitzen und nur zugucken dürfen. Eine ganze Klasse als Eines zu unterrichten ist wirklich eine riesige Aufgabe. Das Ausbrechen der Kinder ist so leicht und ohne die richtige Sprache ist es schwer durchzukommen. Wir erinnern uns beide unterschwellig daran, dass Lehrer und Eltern noch sehr daran gebunden sind, körperliche Gewalt in die Erziehung fließen zu lassen. Trotz unserem Verständnis für den Ansatz, waren wir dennoch überzeugt, dass es auch anders gehen muss, aber wir sehen, dass es die einfachere Möglichkeit wäre, sich so Respekt zu beschaffen. Wenn einem keine Alternative einfällt, dann kommt einem das vielleicht wie die einzige Möglichkeit vor. Wir geben nicht auf und suchen nach Wegen. Es gibt einen kleinen Durchbruch. Unser Freiwillige, der hochgewachsene Henri, kommt herein und steht in der Tür und beschaut die Situation. Sein olivgrünes T-Shirt hat einen Affen auf sich, der auf einem Teppich im Schneidersitz hockt, und mit geschlossenem Daumen und Zeigefinger in der einen Hand, an einem Tee sippt in der anderen Hand. Der Affe schaut nach rechts und atmet in wenig Dampf aus. Ich setze mich durch eine Eingebung auf den Boden und lasse für kurz den Kinderschwall über mich ergehen. Dieser ebbt aus erneuter Neugierde schnell ab und man wundert sich allgemein was passiert und warum ich nicht reagiere und mich nicht bewege. Ich mache ein lang gezogenes ‘Ooohm’ Geräusch und auf einmal ist es still. Beim zweiten Mal sind dann auch alle Augen bei mir und beim Dritten setzt sich auch Jule zu mir auf den Boden. Wir imitieren die Position des Affen auf Henri’s Shirt und kommen so langsam zur Ruhe. Das Phänomen steckt die ganze Klasse an und nach keiner Minute sitzt die gesammelte Truppe um uns herum und stimmt in den Chor aus Ohms dazu. Wir haben ihnen eine kleine Chance gegeben ihr inneres Bedürfnis auf eine kurze Pause und Ruhe auszuüben und in gemeinsamen Ruhe versinkt eine erste Klasse und ihre zwei weißen Lehrer ohne Expertise für fünf Minuten in absoluter Ruhe und nur der Vibration in der Luft vom immer gleichen ‘Ooooohhhmmm’. Eine nette Erinnerung. So schön, dass man beinahe verdängen möchte, wie unverändert chaotisch es danach weiter ging, aber es war absehbar. Der Zirkel in Kindeshand zum Ende hin war kein Spaß und das Kind, welches vom Stuhl auf dem es stand, runter fiel, war auch keiner. Ansonsten waren wir wohl die Glücklichsten als die Stunde endlich aus war und der Strom in Türrichtung trieb. Ayayay, Jule wird diese Klasse über die ersten drei Monate begleiten und bei den restlichen drei Freiwilligen hier in Vikindu sieht es auch so aus. Eine Aufgabe der ich mich nicht gewachsen fühlen würde, aber bei der ich mir sicher bin, dass die Vier es meistern werden und nicht wenig daran wachsen würden. Ihre Aufgabe ist kein spezifisches Fach, sondern die Gestaltung der Stunde, die zum Schulausgleich dienen soll. Kreativ ist das Schlagwort, austoben und Bewegung sind gerne gesehen. Kreativität für die Balance der langen Ruhe und Konzentration im Unterricht. Sie sollen ein bisschen Waldorf in den Ort bringen, der zu dieser Zeit noch nach einer solchen Schulidee benannt ist. Ich wünsche den Vieren wirklich nur das Beste. Heute telefonieren wir das erste Mal wieder miteinander. Ich bin gespannt was sie berichten werden.


An den Abenden gibt es einen weiteren Zeitraum, der von den Freiwilligen gefüllt werden soll. Nach dem Abendessen verbringen die Kinder, welche hier bei der Schule untergebracht sind, noch zwei Stunden in einem abgetrennten Bereich mit Spiel und Musik, bevor es ins Bett gehen soll. Sie sind ausschließlich von diversen Behinderungen betroffen. Hier sind wieder die vier Weißen gefragt, wenn es um Ideen zur Beschäftigung geht und oft genug wurde es Musik. Zusammen mit meiner Box wurde die abendliche Luft dann mit Tönen gefüllt und ausgelassen hatten Veranstalter* wie Teilnehmer* ihren Spaß bei der Sache. Der Farmer Josef welcher nicht selten dazu stieß, führte uns zu bekannten Lieder dann die dazu passenden Bewegungen vor und wir konnten ein bisschen Tanz des Landes lernen. ‘Komosava’ von Diamond Platnumz scheint grade der Hit des Jahrhunderts zu sein und beinahe täglich hört man es von irgendwo her tönen. Kein schlechtes Lied, im Gegenteil. Wenn du grade nichts zu tun hast, dann spiel das Lied gerne ab, einfach damit du ein bisschen nachfühlen kannst, wie der Moment für uns aussah. Die Worte beschreiben den einen Teil, aber Musik macht etwas, das Worte allein nicht können. Versuch’s mal! Wir hatten ebenfalls ein paar Kartenspiele und Memories, und ein Fußball verirrte sich mal zu uns. Als Blätter bemalt wurden und so in den Umlauf des Bereiches kamen, begann ich mein geliebtes Kindheitshobby des Papierflieger Faltens aufs Neue auszuleben und ein paar von ihnen in die Welt zu setzen. Die Kinder freuten sich ungemein. 

 

An einem der ersten Tage hatten die drei Ankömmlinge, Loana, Henri und ich, einmal das Privileg zu einer Art Einführung eingeladen zu werden, wofür wir zum Haus unserer Arbeitgeberin liefen, das auf dem Gelände beim Garten neben der Farm stand. Ein wunderschön bunt dekoriertes Haus, das eine echte Schönheit darstellt, ohne einen reichen Eindruck zu machen, aber stattdessen die Schönheit aus den farbigen, kreativen und natürlichen Elementen zieht. Ein kleines diverses Kunstwerk, mit vielen verschiedenen Farben, kunstvoll gearbeiteten Holzbalustraden, alles verschieden angestrichen und dazwischen viele gut gepflegte Pflanzen in farbenfrohen Tontöpfen. Unsere Chefin Janet ist grade nicht da. Ich würde sie bald noch treffen, aber erzählen kann ich bisher nur wenig. Sie ist die Gründerin von vielen Initiativen wie dieser Schule oder dem ‘House of Hope’ in Mwanza, unser baldiges Ziel. Sie ist international bekannt; das musste ich fest stellen, als eine Freundin aus Kanada Janet’s Namen zufällig in unseren Chat einfließen ließ. Von Janet wird von vielen Orten aus geschwärmt und ohne sie bisher zu kennen, bin ich schon sehr gespannt in ihrer Einrichtung tätig zu sein und mit ihr in Kontakt zu treten. Das wird nicht lange auf sich warten lassen. Die Einführung in ihrem Haus übernahmen stattdessen ihre Medizin studierende Tochter und unser geliebter Mentor Peter. Wir durften an einem runden schönen Holztisch Platz nehmen und kurz die Wohnung beschauen, bevor uns ein mehrseitiges Lesematerial vorgelegt wurde - unser Arbeitsvertrag - und wir uns in jenen vertiefen konnten. Danach wurden Rückfragen geklärt und eh man sich versah, lernte man von unserer Medizinstudentin vieles über die beiden Behinderungen Hydrocephalus und Spina Bifida, mit welchen wir in Mwanza am ‘House of Hope’ hauptsächlich arbeiten werden und zusätzlich erklärte uns Peter viel über den Ablauf dort oben im Norden. Uhh, wir wurden wieder aufgeregt. Klingen tut das alles fabelhaft. Mütter und Kinder im Alter von sehr sehr jung bis ziemlich jung. Kreative Gestaltung der Tagesabläufe und Hilfe beim Kochen und anderen Aufgaben. Dann die Arbeit beim Krankenhaus und der Bildungsauftrag, den wir gegenüber den Müttern haben; über wie ihr Leben danach aussieht und wie sie eine Geburt wie dieser bei der nächsten Schwangerschaft entgegen wirken können und für die Gesundheit ihres Ungebroenen sorgen können. Danach driften wir durch meine Nachfragen immer weiter in die Politik ab, während meine zwei Kumpanen einem Schlafzustand immer näher kommen. Sie verkraften den Schlafmangel wohl anders als ich oder interessieren sich nicht für die Politik eines anderes Landes. Unwahrscheinlich, denn was uns erzählt wird ist von sehr interessanter Substanz. Irgendwann noch mehr dazu. Eine einzige Meinung ohne Kontext wird hier nicht einfließen. Aber es ging um die Partei, welche grade an der Macht ist, die CCM und ihre Präsidentin Samia Suluhu Hassan, und anschließend über die Vereinigung des Festlandes Tanyanika und der Insel Sansibar. Seit 1961 ist das Festland unabhängig und befreit von ihrer zuvorigen englischen Kolonialherrschaft mit ihrem ersten Präsidenten Julius Kambarage Nyerere. Ein schönes Schwarz-Weiß Porträt von ihm und der aktuellen Präsidentin Samia hängen in jedem offiziellen Raum oder Office und zu dieser Zeit hängen in der Stadt Dar es Salaam auch überall Plakate die für die Wiederwahl Samia’s werben. Seit 1964, das Geburtsjahr meines Dad’s, ist das Festland was eben Tanyanika heißt, nun eben verbunden in Einheit mit der Insel ein bisschen überhalb von Dar es Salaam im östlichen indischen Ozean - Sansibar.Bestimmt schon mal gehört, oder? Der Konsens der Unstimmigkeit geht darum, wer von der Vereinigung profitiert und wer ausgenutzt wird. Alles in allem einfach nur spannend zu hören. Unser Mentor und die Tochter von Janet sind ein witziges Duo und nehmen sich eine ganze Menge Zeit wobei sie begeistert auf jede weitere Rückfrage eingehen. Zeitgleich packt unsere Studentin ihren Koffer, um ganz bald in den Norden zu reisen und vielleicht sieht man sich ja nochmal. Beflügelt von neuen Eindrücken und am Boden gehalten durch fehlende Stunden Schlaf, werden wir dann freigeben. Kurz fragt sie mich noch warum ich permanent barfuß laufe und diesmal nehme ich den Grund, dass es eine interessante Ebene der Wahrnehmung hinzufügt und einen mit dem Ort verbindet, an dem man sich aufhält.  Anschließend genießen wir den Abend mit den Kindern, wo wir Kekse verteilen, die wir von einem Stand ganz in der Nähe gekauft haben. Die Musik erschafft eine schöne Stimmung und die paar kleine Menschlein die Englisch sprechen können, bringen uns begeistert und pausenlos Swahili bei. 


Das letzte Event, dass für diese Zeit aus Vikindu mitgenommen wird, bevor uns ein Bus den ganzen Weg bis zum See fährt, sind die täglichen Abende und der Ort an dem wir sie verbringen. Keine zwei Kilometer Sandstraße von wo wir leben, ist die nächste große Straße, die uns mit der Welt verbindet. Um sie herum stehen die aller meisten Geschäfte. Zur Linken geht es zum Geldautomaten, der uns schon 400 Tausend Tansanische Schilling für eine Gegenleistung zukommen ließ, und auf der Rechten, nicht weit, steht das Lokal in dem wir allabendlich einkehren. Ein kleiner Raum mit Blechüberdachung nach draußen mit lachsfarbenen Innenwänden und zwei Plexiglasboxen, die ihre Waren anbieten, die hier gekocht und gebacken werden. Hasan begrüßt uns schon von Weitem und bereitet sofort den blauen Plastiktisch für uns vor, damit wir gesammelt den gesamten Gästebereich einnehmen können. Jede einzelne Person wird begrüßt und auf die Schnelle ein bisschen abgefragt und die Vokabeln vom letzten Mal werden weiter geübt. Wir bestellen über unsere Swahili sprechende Anna was wir uns denn dieses Mal wünschen und ein wenig später stehen brauner Reis mit Soße und Bohnen oder zuckerfreie Pfannkuchen ohne Ei, aber dafür mit seichter grünen Suppe vor uns. Am Ende kommen oft kleine Gebäcke dazu oder man teilt sich eine Portion Pommes, Chipsy genannt, während eine Person beginnt die Karten von Jule zu mischen und man sich einfindet, um seine Maumau- oder Holländer- oder Schwimmen-Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Das zieht sich bis kurz vor neun, wenn unsere Ausgangssperre den Riegel vor Soziales außerhalb des Schulgeländes schließt. Aber die Abende werden gefeatured von Hasan selbst, sobald keine Kunden mehr zu bedienen sind, oder einem guten Freund aus der Gegend namens Bakari. Am Geburtstag einer der Farmer nehmen wir auch alle drei jungen Männer der Farm mit auf unseren Abend, geben die Mahlzeit aus und haben dann die größte aller bisherigen Runden Maumau vor uns. Bakari, ein junger fließend Englisch sprechender Mann mit klarem Kopf und genialen Strategien im Kartenspiel bringt uns nicht wenig Sprache bei, während wir gemeinsam an seinem Traum feilen Deutsch zu lernen. Ein Gespräch das wir hatten möchte ich teilen, da es mir trotz langer Überlegung bis heute nicht möglich ist, sein Anliegen befriedigend zu lösen. DU darfst also mitdenken.
Auf einem beliebigen geteilten Nachhauseweg kommt es so, dass Bakari mich fragt, wieso ich Teile des abends unbewegt da saß, während andere die Runde beendeten, und meine Augen dabei geschloßen waren. Meine simple Antwort, zu versuchen den Moment zu nutzen und inneren Frieden zu pflegen, bringt ihn auf die Idee ich hätte meditiert. Er hat Fragen und ich versuche ihm Einblicke zu gewähren, allerdings muss ich feststellen, dass es kein bloßes Interesse war, sondern ein Problem mit dem er sich beschäftigt hatte, welches nach Antworten sucht und nach Wegen mit dem Problem umzugehen. Er hofft es in der Meditation zu entdecken und das weiß ich noch nicht, als ich ihm unbedacht davon erzähle. Der Umstand mit dem er sich herumschlägt ist Folgender: Er trifft Entscheidungen die in der Zukunft liegen und fängt an, nachdem die Entscheidung getroffen ist, sich viele Sorgen zu machen das Falsche gewählt zu haben. Auch wenn er viel vor der Entscheidung überlegt hatte. Er überdenkt alles krampfhaft und zerbricht sich den Kopf darüber was passiert, wenn das genau die falsche Entscheidung war und er bei diesem Weg vielleicht umkommt. Etwas extrem vielleicht, aber sein berechtigtes Beispiel war Folgendes: er muss bald in den nächsten Ort und hat wenig Geld. Mit einem Moped zu fahren ist billig und gefährlich. Irgendwann überwindet er sich und nimmt die Gefahr auf sich um Geld zu sparen, aber sobald der Entschluss gefasst ist, beginnt ihn die Angst zu überwältigen, dass er genau das Falsche gewählt hätte. Dass etwas passieren könnte, wenn er genau diesen Weg geht. Er tut mir leid und lange denke ich nach, wie ihm Meditation dabei helfen könnte. Zuerst frage ich allerdings noch wie es um ihn und seine Religion steht. Er meint Muslim zu sein, aber ohne den Glauben. Vielleicht hätte ihm das sonst geholfen unbedacht in die Zukunft zu gehen, mit dem Denken, dass ein Gott dein Leben in der Hand hat und genau das passieren lässt, was er für richtig hält. Meine Ansätze bröckeln. Für mich selbst durfte ich durch Reisen und tatsächlich durch Meditation andere Ansichten auf den Tod entwickeln, die so konkret in keiner mir bekannten Religion vertreten wären. Soll ich versuchen ihm die Angst vor dem Tod zu nehmen? Das liegt vermutlich nicht in meiner Hand. Soll man sein Denken beeinflussen, auf dass er nicht mehr überdenken müsste? Menschen können sich nur selbst verändern, nie von einer anderen Person durch ein einziges direktes Gespräch. Warum machen wir uns keine übermäßigen Sorgen über den Tod? Genug Sorgen um was kommt, machen wir uns ja schon, davon geh ich aus. Mir sagte mal jemand in Spanien, er würde sich keine Sorgen machen, sondern nur Gedanken. Mir scheint als hätten Menschen schon Antworten gefunden und für eine Weile war ich trist, weil die Antwort noch nicht in mir zu finden war. 

Und mit dieser herben Enttäuschung zurück ins Studio. Wir halten fest: duzende von neuen Bekanntschaften, neue gemeinschaftliche Aktivitäten und Einblicke in andere Lebensweisen. Nach vielen gemeinsamen Tagen und einer großartigen Atmosphäre in einer inklusiven Waldorfschule, geht es nun wohl weiter.
Vermissen werde ich die Gegend Vikindu und ihre Menschen, die ich noch nicht kennen lernen durfte. Am meisten fehlen mir die Kinder und die vielen schönen Momente und das viele Lachen das miteinander entstand. Die Idee Unterrichtsgestaltung zu erlernen, reizt mich eigentlich auch, und jenen Kindern hier einen schönen Teil des Schulalltags geben zu können wäre auch nichts falsches gewesen. Ich vermisse den Garten und seine Vielzahl an Früchten, die Scharen aus kleinen Hühnerfamilien auf den sandigen Straßen, die wie eine Mondlandschaft durch die Wellblechhäusersiedlung wurzelte. Die nassen Erdnüsse und die Suppe von Hasan… aber man wird wieder kommen, darüber bin ich mir ganz wichtig. Insofern ist es nie ein Goodbye sondern immer nur ein Auf Wiedersehen. 

Am meisten vermisse ich die Momente, an die ich mich nun nicht mehr erinnern kann.